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US-Autorin Bohannon: »Wenn man männliche Säugetiere kastriert, leben sie länger«
US-Autorin Bohannon: »Wenn man männliche Säugetiere kastriert, leben sie länger«
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Stefano Giovannini

Evolution und Geschlechterforschung »Sexismus führte dazu, dass mehr Mütter und Babys überleben konnten«

In ihrem Bestseller »Eva« erzählt Evolutionsexpertin Cat Bohannon die Geschichte der Menschwerdung aus weiblicher Sicht. Ihre These: Geburtshilfe und Abtreibungen waren entscheidend für das Überleben unserer Spezies. Und Sexismus.
Ein SPIEGEL-Gespräch von Susanne Weingarten aus DER SPIEGEL 54/2024

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SPIEGEL: Frau Bohannon, die Prämisse Ihrer Evolutionsgeschichte klingt verblüffend einfach: Der weibliche Körper hat die Entwicklung des Menschen vorangetrieben, weil er die Babys hervorbringt. Keine Babys, keine Zukunft für eine Spezies. Wenn er so wichtig ist: Warum ist der weibliche Körper dann so schlecht erforscht und der männliche Körper immer noch die medizinische Norm?

Bohannon: Natürlich gäbe es mein Buch nicht, wenn es nicht so viel neue, aufregende, auch seltsame und lustige Forschung über Geschlechtsunterschiede und über den weiblichen Körper gäbe. Wir befinden uns gerade in einer Aufholjagd und sind erst dabei, die Wissenslücken zu schließen. Und die Lücken sind riesig …

SPIEGEL: …weil sich die Medizin lange kaum für den weiblichen Körper interessiert hat. Zugleich wurden Frauen jahrhundertelang auf ihren Körper reduziert und als wandelnde Gebärmutter betrachtet. Geistige Fähigkeiten wurden ihnen eher abgesprochen. Wie erklären Sie sich dieses Paradox?

Bohannon: Dahinter verbirgt sich die sexistische Einstellung: Okay, meine Damen, Sie sind eine Frau, Ihr Körper ist nicht so wichtig. Ziehen Sie bitte Kinder auf und lassen die Männer in Ruhe. Das scheint die allgemeine Haltung seit Jahrhunderten zu sein. Seit Jahrtausenden. Gut, dass sich das endlich ändert.

SPIEGEL: Sie gehen sogar Millionen von Jahren zurück, zu Tieren der Urzeit, die erstmals Brustwarzen entwickelten oder Fortpflanzungsorgane, die das Gebären von lebendem Nachwuchs möglich gemacht haben. Was lehrt der Blick auf diese »Evas« oder Urmütter, die lange vor der Ankunft des Homo sapiens existiert haben?

Bohannon: Es gibt so viele Geschichten darüber, wie wir uns entwickelt haben, über die große Reise der Menschheit, um das zu werden, was wir sind. Aber in den meisten dieser Geschichten spielt die Frau eine Nebenrolle. Wir sind für die Männer da, die mit uns Sex haben wollen. Wir sind da, um Babys zu bekommen, immer still und leise im Hintergrund.

»Eierlegen wäre viel einfacher!«
Aufklärungsunterricht in den USA 1948: »Wir sind für die Männer da, die mit uns Sex haben wollen«

Aufklärungsunterricht in den USA 1948: »Wir sind für die Männer da, die mit uns Sex haben wollen«

Foto: Everett Collection / IMAGO

Aber eigentlich, und das kann Ihnen jeder Evolutionsbiologe sagen, ist das Unfug. Eigentlich ist die Geschichte der Evolution sehr, sehr oft eine Geschichte der Frauen. Und das gilt besonders für Säugetiere, denn auf unserer evolutionären Reise geht es häufig um weibliche Körper und Fortpflanzung. Die Art und Weise, wie wir Babys machen, ist ziemlich kostspielig für die Frauen. Unsere Fortpflanzung verbraucht Energie, es ist anstrengend und gefährlich, Kinder auszutragen und sie aufzuziehen. Eierlegen wäre viel einfacher!

SPIEGEL: Und trotzdem wird die Geschichte der Männer erzählt?

Bohannon: Genau. Kennen Sie die berühmte Szene aus Stanley Kubricks Film »2001 – Odyssee im Weltraum«?

Szene aus Kubrick-Film »2001 – Odyssee im Weltraum«: »Na ja, die Jungs machen schon was. Und ich bin sicher, sie halten sich und das, was sie tun, für sehr wichtig«

Szene aus Kubrick-Film »2001 – Odyssee im Weltraum«: »Na ja, die Jungs machen schon was. Und ich bin sicher, sie halten sich und das, was sie tun, für sehr wichtig«

Foto: Collection Christophel / action press

SPIEGEL: Die Anfangsszene, wo eine Gruppe von Frühmenschen sich mit Knochen prügelt?

Bohannon: Ja, wo sie die erste Waffe erfinden. In dieser Gruppe von Hominiden gibt es keine weiblichen Mitglieder und buchstäblich keine Babys. Als Evolutionsexpertin frage ich mich sofort: Wo ist der Nachwuchs? Ich habe in meinem Kopf die Szene so umgebaut: Irgendwo hinter diesem staubigen Hügel tummeln sich die Weibchen. Sie säugen ihre Babys, kümmern sich umeinander und zerstampfen Knollen mit einem Stein für die nächste Mahlzeit.

»Wir Menschen sind sehr, sehr alte Säugetiere, zugleich sind wir sehr junge soziale Primaten und noch viel jüngere Homo sapiens.«

Und wenn die Szene so aussieht, denke ich mir: Na ja, die Jungs machen schon was. Ich bin sicher, sie halten sich und das, was sie tun, für sehr wichtig. So haben wir die Geschichte der menschlichen Evolution schon immer erzählt, oder? Aber hinter dem Hügel passieren ganz andere Dinge, und die waren genauso wichtig, sogar viel wichtiger, weil sie die Menschheit vor dem Aussterben bewahrt haben.

Anatomische Uteruszeichnung (1672): »Woher stammen die Baupläne unseres Körpers, wie sind sie entstanden?«

Anatomische Uteruszeichnung (1672): »Woher stammen die Baupläne unseres Körpers, wie sind sie entstanden?«

Foto: piemags / IMAGO

SPIEGEL: Der Feminismus hat sich heftig – und mit einigem Erfolg – dagegen gewehrt, dass Frauen nur dann als vollwertig angesehen werden, wenn sie Mütter sind. Sie betonen zwar, dass jede Frau das Recht hat, sich für oder gegen die Mutterschaft zu entscheiden. Und doch entwickeln Sie Ihr zentrales Argument aus der Tatsache, dass die Gebärfähigkeit die Frauen aus evolutionärer Sicht wertvoll macht. Wie vereinbaren Sie das mit Ihrem Feminismus?

Bohannon: Wenn man so tief in die Geschichte zurückschaut wie ich, muss man sich Fragen zur Reproduktion stellen. Woher stammen die Baupläne unseres Körpers, wie sind sie entstanden? Aber ich behaupte durchaus nicht, dass unser einziger Wert als Frau in der Erzeugung weiterer Generationen besteht.

»Wir wären nicht in der Lage gewesen zu überleben, wenn wir unsere Fruchtbarkeit nicht manipuliert hätten.«

Die Notwendigkeit, überhaupt Kinder zu bekommen, steht nicht im Widerspruch dazu, dass wir noch viel mehr sind, nämlich soziale Primaten, die in komplexen Gesellschaften leben und alle am Erfolg unserer Spezies mitarbeiten, einschließlich vieler Mitglieder, die keine Kinder bekommen können oder wollen. Wir Menschen sind sehr, sehr alte Säugetiere, zugleich sind wir sehr junge soziale Primaten und noch viel jüngere Homo sapiens. Und als Optimistin hoffe ich, dass es die Zusammenarbeit zwischen den Geschlechtern sein wird, die uns dieses Mal vor dem Aussterben bewahrt, weil wir wieder einmal kurz vor dem Abgrund stehen.

SPIEGEL: Sie stellen die gewagte These auf, dass die Menschen sich nicht so sehr wegen der Nutzung des Feuers, der Erfindung von Werkzeugen oder Jagdwaffen evolutionär durchgesetzt haben, sondern weil sie die Gynäkologie entwickelten – frühe Techniken des Hebammentums, der Naturheilkunde und auch der Geburtenkontrolle. Dadurch konnten mehr gesunde Babys und Mütter überleben. Wie kamen Sie darauf?

Bohannon: Man findet dafür logischerweise nicht viele Beweise. Wo soll man in den Steinen oder Knochen einen Beleg für Geburtenkontrolle finden? Aber wenn man einmal die einfache Annahme zugrunde legt, dass die Fortpflanzung beim Menschen schwierig und gefährlich ist, weil wir mit unserem Körperbau im Vergleich zu anderen Primaten miserabel dafür ausgerüstet sind, dann ist eigentlich klar: Wir wären nicht in der Lage gewesen zu überleben, wenn wir unsere Fruchtbarkeit nicht manipuliert hätten.

Aus: SPIEGEL SPEZIAL Medizin

Gesundheit für alle

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SPIEGEL: Mit dieser These stehen Sie aber ziemlich allein, oder?

Bohannon: Seien wir ehrlich: Es gibt ein soziales Unbehagen. Den Menschen ist es unangenehm, dass es auch um Geburtenkontrolle ging, um die Optimierung der weiblichen Fruchtbarkeit für die örtliche Kultur und die örtliche Umwelt, und das seit Millionen von Jahren. Bei anderen Primaten haben wir einige Beweise für den Einsatz von Pharmakologie gefunden, um die weibliche Fruchtbarkeit nach oben und unten zu regulieren. Ich würde nie behaupten, dass dies bewusst geschieht. Ich weiß nicht, ob Schimpansen ein Bewusstsein haben oder nicht.

Schimpansin mit Jungem: »Es ist bei vielen Säugetieren gang und gäbe, Schwangerschaften als Reaktion auf soziale Bedrohungen zu beenden«

Schimpansin mit Jungem: »Es ist bei vielen Säugetieren gang und gäbe, Schwangerschaften als Reaktion auf soziale Bedrohungen zu beenden«

Foto: Slavomir Kubes / CTK Photo / IMAGO

Aber wir haben Beweise dafür, dass ein großer Teil des menschlichen Verhaltens einfach eine Erweiterung der grundlegenden Verhaltensweisen von Primaten ist. Mit anderen Worten: Wir tun so, als hätte wir die Abtreibung erfunden. Das haben wir nicht. Wir haben die Abtreibung in der Form erfunden, in der wir sie durchführen. Aber es gibt sie in vielen verschiedenen Formen bei vielen verschiedenen Säugetieren.
SPIEGEL: Schimpansen treiben ab?

Bohannon: Es ist bei vielen Säugetieren gang und gäbe, Schwangerschaften als Reaktion auf soziale Bedrohungen zu beenden, es scheint, dass das in den grundlegenden Körperplan für viele von uns Säugetieren eingebaut ist. Dass wir Menschen das mithilfe der Medizin tun, ist einfach ein Beweis für unseren Einfallsreichtum, nicht für unsere Neuartigkeit.

SPIEGEL: Vielleicht hat die Gynäkologie-These auch deshalb keine Blüte erlebt, weil männliche Forscher gar nicht auf den Gedanken gekommen sind, dass die Evolution durch etwas so Weibliches bestimmt worden sein könnte statt durch männlich konnotierte Errungenschaften wie die Jagd.

Bohannon: Da haben Sie nicht unrecht. Ich bin nur etwas großzügiger. Vielleicht kann ja beides wahr sein?

SPIEGEL: Geschützt hat die Frauen seit der Frühgeschichte Ihrer Meinung nach aber nicht nur die Gynäkologie, sondern auch ein massives gesellschaftliches Regelwerk zur Kontrolle der Fortpflanzung: etwa Normen darüber, wann und wo Männer Zugang zu Frauen haben und Strafe für diejenigen, die sich nicht daran halten. Das sind Regeln einer sexistischen Gesellschaft. Jetzt behaupten Sie, dass genau das für die Frauen lange von Vorteil war.

Bohannon: Ja. Und ich habe vollen Respekt vor allen, die diese Idee buchstäblich hassen. Aber es war meine Aufgabe, mich in die Tiefen der Zeit hineinzuversetzen, über enorme Kräfte nachzudenken, die sich über fast unvorstellbare Zeiträume bewegen, und wie diese Kräfte die entstehenden menschlichen Gesellschaften geformt haben. Und dann musste ich in einem solchen Rahmen denken.

»Es ist sehr nützlich, Regeln zu haben, die verhindern, dass beispielsweise vorpubertäre Mädchen zum Sex gezwungen werden.«

Mir schien klar, dass zumindest der Aspekt des Sexismus, der die Fortpflanzung kontrolliert, parallel zur Entwicklung der Gynäkologie verläuft. Es ist großartig, Hebammen und medizinische Techniken zu haben. Es ist aber auch sehr nützlich, Regeln zu haben, die verhindern, dass beispielsweise vorpubertäre Mädchen zum Sex gezwungen werden. Solche Sexregeln führten dazu, dass mehr Mütter und Babys überleben und gedeihen konnten. Und es gibt einige Regeln, die ich nach wie vor voll und ganz unterschreiben würde – etwa dass niemand eine Zwölfjährige schwängern sollte.

SPIEGEL: Und heute? Wenn der Sexismus so eine feine Sache ist, sollte man das mit der Gleichberechtigung doch lieber lassen?

Bohannon: Nein, wir sind heute an einem Punkt in der Geschichte angelangt, an dem die Gynäkologie so gut ist, dass die meisten Mütter und Babys unser von Natur aus gefährliches Fortpflanzungssystem überleben. Die alte Kombo aus Gynäkologie und Sexismus ist also nicht mehr nötig. Im Gegenteil: Die meisten Sexregeln wirken heute allen Errungenschaften der Gynäkologie entgegen, statt sie zu ergänzen. Sexismus blockiert in vielen Ländern den Zugang zur gynäkologischen Versorgung …

Protest gegen Abtreibungsverbot in den USA 2021: »In einigen Bundesstaaten versuchen Leute sogar, Verhütungsmittel zu verbieten«

Protest gegen Abtreibungsverbot in den USA 2021: »In einigen Bundesstaaten versuchen Leute sogar, Verhütungsmittel zu verbieten«

Foto: Bob Daemmrich / ZUMA Wire / IMAGO
Mädchen-Demo: »Wir erleben im Moment eine entsetzliche und gewalttätige Zurückdrängung der Rechte von Frauen und Mädchen«

Mädchen-Demo: »Wir erleben im Moment eine entsetzliche und gewalttätige Zurückdrängung der Rechte von Frauen und Mädchen«

Foto: Maskot / Getty Images

SPIEGEL: … in Ihrer Heimat, den USA, wurde 2022 das verfassungsmäßige Recht auf Abtreibung gekippt.

Bohannon: Das stimmt, in einigen Bundesstaaten versuchen Leute sogar, Verhütungsmittel wie die Spirale zu verbieten. Das ist eine ganz offensichtliche Art und Weise, wie uns Sexismus heute in die Quere kommt. Außerdem propagiert er die Vorstellung, dass das ganze Leben der Frau auf die Fortpflanzung ausgerichtet sei. Nein! In Wirklichkeit ging es historisch immer nur darum, die Gefahren der Fortpflanzung zu minimieren. Und das ist heute gewährleistet. Aber durch diese Ideologie untergräbt der heutige Sexismus die grundlegenden Rechte von Mädchen und Frauen auf Selbstbestimmung und gleiche Chancen.

SPIEGEL: Sie betonen im Buch immer wieder, dass Mädchen und Frauen viel wertvoller für eine Gesellschaft seien, weil sie ihre Nachkommen austragen. Eine Gebärmutter ist kostbar, während Sperma leicht zu beschaffen ist. Das widerspricht der Tatsache, dass in vielen, vor allem traditionellen Gesellschaften Söhne viel mehr geschätzt werden als Töchter. Wie erklären Sie diese Diskrepanz

Bohannon: Jeder Biologe wird Ihnen sagen, dass der Verlust eines Männchens für eine Gruppe weniger schlimm ist als der Verlust eines Weibchens. So ist unsere Fortpflanzung nun einmal aufgebaut, das ist eine Frage der evolutionären Fitness. Aber sobald man in einer Gruppe lebt, die den Erfolg und die Gesundheit eines jeden Gruppenmitglieds sicherstellen soll, werden wir alle gleich wichtig. Ich habe eine Tochter und einen Sohn. Und ich möchte, dass sie als gleichermaßen wertvoll wahrgenommen werden.

SPIEGEL: Das ist löblich, beantwortet aber unsere Frage nach der Bevorzugung von Jungen nicht. Wenn der Sexismus Hunderttausende von Jahren alt und obendrein evolutionär fest verankert ist und Frauen ihn aktiv seit vielleicht 150 Jahren bekämpfen, stehen die Chancen für den Feminismus nicht wirklich gut, oder?

Bohannon: Das glaube ich nicht. Das, was wir Sexismus nennen, bekämpfen wir in vielen menschlichen Gesellschaften schon wesentlich länger als 150 Jahre. Als Europäerinnen oder Amerikanerinnen haben wir einen sehr verengten Blick auf die Geschichte des Feminismus. Aber Sie können sehen, dass in der gesamten bekannten Menschheitsgeschichte in vielen verschiedenen Kulturen gegen die Idee angegangen wurde, dass Frauen und Mädchen nicht wertvoll seien. Im Goldenen Zeitalter des Islam, also vom 7. bis zum 13. Jahrhundert, war es eine sehr verbreitete Idee, dass Kinder gleichberechtigt erzogen werden müssen. Wir müssen uns also unsere eigene Kurzsichtigkeit eingestehen, wenn wir denken, dass wir den Feminismus erfunden haben.

»Wir wissen ja noch gar nicht, welche der vielen Geschlechtsunterschiede, die wir finden, wirklich von Bedeutung sind.«

Cat Bohannon

SPIEGEL: Wenn eine neue Generation von Wissenschaftlern nun anfängt, Geschlechtsunterschiede zu untersuchen, werden sie diese wahrscheinlich so ziemlich überall finden. Leistet das nicht den konservativen Narrativen Vorschub, die gerade in den USA auf dem Vormarsch sind – dass Mannsein oder Frausein rein biologisch determiniert sei? Damit entsteht eine bequeme wissenschaftliche Grundlage für traditionelle Geschlechternormen, die Frauen an den Herd zurückschicken und Homosexuelle oder trans Menschen diskriminieren.

Bohannon: Mehr Forschung ist immer eine gute Sache. Wir wissen ja noch gar nicht, welche der vielen Geschlechtsunterschiede, die wir von der Ratte über den Affen bis hin zum Menschen finden, wirklich von Bedeutung sind. Aber alles, was wir nicht wissen, bringt viel mehr Menschen in Gefahr als neu errungenes Wissen, auch wenn wir befürchten müssen, dass jemand dieses Wissen missbraucht, um sexistische Ideen zu verstärken. Mit besserem Wissen über den weiblichen Körper können wir Medikamente besser anpassen, wir können dafür sorgen, dass Frauen nicht auf dem OP-Tisch aufwachen, weil die Ärzte die Anästhesie falsch berechnet haben. Und daneben können wir ja trotzdem für Gleichberechtigung kämpfen, ohne dass das irgendwie in Konflikt steht.

Demo für Frauenrechte in New York 1971: »Wir müssen uns unsere eigene Kurzsichtigkeit eingestehen, wenn wir denken, dass wir den Feminismus erfunden haben«

Demo für Frauenrechte in New York 1971: »Wir müssen uns unsere eigene Kurzsichtigkeit eingestehen, wenn wir denken, dass wir den Feminismus erfunden haben«

Foto: Photo12 / IMAGO

SPIEGEL: Der Mensch gehört zu den wenigen Gattungen, die eine Menopause kennen. Das wird von Evolutionsforschern gern damit erklärt, dass ältere Frauen als »Großmütter« bei der Aufzucht des Nachwuchses nützlich sind. Glauben Sie das auch?

Bohannon: Nein. Leider haben wir in der Gesellschaft wie in der Wissenschaft viel zu lange diese alte Geschichte erzählt, wozu die Großmütter dienen. All diese älteren Frauen sind nach meinem Dafürhalten nicht dazu da, sich um die Enkelkinder zu kümmern. Es geht darum, dass sie Dinge wissen und Jüngeren dieses Wissen weitergeben können. Der Wert der Alten liegt in ihrer Weisheit und nicht in der kostenlosen Kinderbetreuung.

SPIEGEL: Sehen Sie das nicht etwas zu romantisch? Ältere Frauen beklagen sich heute eher darüber, dass sie unsichtbar sind und von der Gesellschaft ausgemustert werden, nicht über eine allzu hohe Nachfrage nach ihrer Lebensweisheit.

»Oft ist die Botschaft, die älteren Frauen vermittelt wird: Sei still, sei unsichtbar und halt den Mund.«

Cat Bohannon

Bohannon: Man muss sicher unterscheiden zwischen der Gegenwart und den Gesellschaften vor vielen Tausenden von Jahren, als die Erinnerungen älterer Menschen für das Überleben der Gruppe entscheidend sein konnten, weil es noch keine schriftlichen Überlieferungen gab. Dass wir heute die Weisheit von älteren Frauen konsequent abwerten, ist absolut wahr; ihnen werden nach der Menopause keine Lorbeeren aufs Haupt gesetzt, weil sie so lange gelebt und so viel zu erzählen haben. Nein, ganz im Gegenteil. Oft ist die Botschaft, die älteren Frauen vermittelt wird: Sei still, sei unsichtbar und halt den Mund. Deshalb bin ich froh, dass wir jetzt die Möglichkeit haben zu sagen: Nein, ich werde nicht still und klein und unsichtbar werden – und das einfach herausschreien.

SPIEGEL: Warum sollten Männer sich für die Erforschung biologischer Geschlechtsunterschiede interessieren – sie sind ja bislang die Norm und ganz gut damit gefahren?

Bohannon: Die höfliche Antwort wäre, dass wir alle Mitglieder unserer Gesellschaft sind und füreinander sorgen sollten. Aber diese Strategie hat bisher nicht sehr gut funktioniert, oder? Insofern setze ich aufs Eigeninteresse der Männer. Wir wissen, dass sie nicht so lange leben wie Frauen. Da wir die Biologie der Geschlechtsunterschiede nicht richtig erforscht haben, haben wir immer noch keine guten Antworten darauf, warum das so ist. Was wir allerdings wissen: Wenn man männliche Säugetiere kastriert, leben sie länger. Das gilt für Mäuse, Hunde, Katzen, Affen und auch für Menschen.

SPIEGEL: Gibt es belastbare Zahlen für die Vorteile des Eunuchentums?

Bohannon: Ja, denn in der Weltgeschichte gab es eine Reihe von Gemeinschaften, in denen Eunuchen lebten. Der königliche Hof Koreas hielt sich bis zum 19. Jahrhundert Eunuchen und erstellte sehr gute medizinische Aufzeichnungen. Auch in den USA gab es Mitte des vorigen Jahrhunderts noch Eunuchen, denn Männer mit psychischen Krankheiten wurden oft kastriert. Solche Eugenik ist furchtbar, aber auch hier resultierte sie in sehr guten medizinischen Unterlagen.

»Unter den koreanischen Eunuchen gab es eine Reihe von 100-Jährigen.«

Die männlichen Eunuchen lebten im Durchschnitt 14 Jahre länger als nicht kastrierte Männer, in etlichen Fällen sogar viel, viel länger. Unter den koreanischen Eunuchen gab es eine Reihe von 100-Jährigen. Es wäre also für Männer hilfreich, wenn wir gute wissenschaftliche Erklärungen dafür hätten, warum Hoden so extrem gefährlich und tödlich zu sein scheinen. Finden wir die Gründe, könnten wir Männer vielleicht länger am Leben erhalten, ohne sie zu kastrieren.

SPIEGEL: Lehrt der Blick zurück in die Tiefen der menschlichen Urgeschichte eigentlich auch etwas über die Zukunft?

Bohannon: Ich glaube schon. Wir erleben im Moment zwar in vielen Gesellschaften eine entsetzliche und gewalttätige Zurückdrängung der Rechte von Frauen und Mädchen. Wir werden dafür kämpfen müssen, um das zu überwinden – verdammt noch mal, in den USA ist Trump der Favorit für die nächste Präsidentschaftswahl! Aber wenn man die Kamera zurückzieht und auf die großen Linien der Geschichte blickt, sieht man, dass wir auf dem Weg sind, geschlechtergerechtere Gesellschaften zu schaffen. Es gibt Schleifen, es gibt Wirbel, es gibt Rückschritte. Aber wir bewegen uns unaufhaltsam in die richtige Richtung. Davon bin ich überzeugt.

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© Patrick Mariathasan / DER SPIEGEL
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